Vom 21. Juni bis 1. September gastiert die Ausstellung „Power2Change: Mission Energiewende“ in der experimenta. Die Ausstellung zu Energiewende beleuchtet den Weg in eine klimaneutrale Zukunft und präsentiert Lösungsansätze für eine sichere und bezahlbare Energieversorgung. Prof. Dr. Stefan Niessen, Leiter der Forschungsabteilung Energiesysteme bei Siemens und Sprecher des Kopernikus-Projekts ENSURE, erklärt im Interview, wie Stromnetze für die Zukunft fit gemacht werden können.
Herr Prof. Niessen, warum ist unser jetziges Stromnetz nicht zukunftsfähig?
Unsere Stromnetze haben bereits heute an vielen Stellen die Grenze der Belastungsfähigkeit erreicht. Glauben Sie nicht? In Deutschland sind erst 1,5 Millionen Elektroautos auf den Straßen unterwegs – bei einem Gesamtbestand von 60 Millionen Fahrzeugen. Trotzdem kam es bis vor Kurzem regelmäßig vor, dass Netzbetreiber den Anschluss einer Wallbox nicht genehmigt haben. Seit April wurde dieses Problem nun verlagert, denn gemäß dem neuen §14a des Energiewirtschaftsgesetzes dürfen die Netzbetreiber die Ladevorgänge abregeln. Dieser Effekt ist schleichend und für den Laien nicht so leicht zu erkennen. Möglicherweise wird dann auf den Hersteller des Elektrofahrzeugs geflucht, weil die Batterie nicht voll aufgeladen wird. Ähnlich verhält es sich bei Dach-Photovoltaikanlagen: Wenn die Sonne voll scheint, müssen sie abgeregelt werden, weil ansonsten die Grenzwerte der Netze überschritten werden. Grund dafür ist, dass der Großteil unserer Stromnetze in einer Zeit verlegt worden ist, in der noch niemand etwas von den neuen Einspeisern und Verbrauchern ahnte. Neue Stromleitungen zu legen ist teuer und im Falle der Innenstädte in der erforderlichen Geschwindigkeit gar nicht machbar: Man kann nicht überall gleichzeitig die Straße aufreißen. Mit einer intelligenteren Wechselwirkung zwischen Netz und Netznutzern können wir die dringend benötigte Zeit gewinnen, um den Umbau der Netze kosteneffizient und ohne unnötige Härten zu gestalten.
Hier setzt das Kopernikus-Projekt ENSURE an und möchte Stromnetze fit machen für die Energiewende. Woran arbeiten Sie konkret?
Im Kern geht es darum, unsere bestehenden Netze besser auszunutzen. Unser Ehrgeiz ist es, mit den bestehenden Verteilnetzen doppelt so viel Energie zu transportieren wie heute. Damit das funktioniert, müssen eine Reihe cleverer Technologien zusammenwirken. Zu zeigen, wie das Zusammenwirken dieser Technologien in der Praxis eine sichere Stromversorgung ermöglicht und auf ganz Deutschland hochskaliert werden kann, ist die Aufgabe von ENSURE. Dazu drei Beispiele aus unserer Arbeit:
Erstens, Adaptiver Netzschutz.
In der Vergangenheit floss der Strom von wenigen Großkraftwerken zu Millionen Verbrauchern immer von der höheren zur niedrigeren Spannungsebene. Im Falle einer Störung wurde, wie bei einer Sicherung zuhause, der Strom abgeschaltet. Mittlerweile haben wir regelmäßig eine Umkehr der Stromflussrichtung von der niedrigeren zur höheren Spannungsebene, weil die Erneuerbaren in niedrigere Spannungsebenen einspeisen. Wenn in einem solchen Fall der Netzschutz bei zu hohem Strom einfach abschalten würde, hätte dies zur Folge, dass in den niedrigeren Spannungsebenen Leitungen und Transformatoren durchbrennen. Bisher wird dieses Problem durch Überdimensionierung der Netzbetriebsmittel gelöst. Wenn zukünftig der Netzschutz die jeweils aktuelle Einspeise-Nachfragesituation kennt, und Einspeisung und Entnahme intelligent automatisch aufeinander abgestimmt werden, brauchen wir nicht unnötig Überkapazitäten im Netz vorzuhalten und können mehr Elektrofahrzeuge laden.
Zweitens, Umrichter zur Netzstützung.
Viele Komponenten der Energiewende sind über Umrichter mit dem Stromnetz verbunden: Photovoltaik, Windgeneratoren, Ladestationen, Hochspannungsgleichstromleitungen, Batteriespeicher. Eigentlich könnten diese Umrichter als nahezu kostenloser Beifang auch das Netz stützen und so dafür sorgen, dass die Spannungsbänder eingehalten werden und die Frequenz stabilisiert wird.
Drittens, Co-Demonstrationsplattform.
Ob die verschiedenen Netztechnologien im Zusammenspiel auch im ganzen Land wirklich funktionieren, überprüfen wir bei ENSURE mit einer Co-Demonstrationsplattform. Dazu haben wir die Netzsimulatoren der Universitäten in Aachen, Erlangen und Karlsruhe synchron und phasenscharf miteinander gekoppelt. Dadurch sind wir in der Lage, Hardware in Echtzeit in eine hybride Simulation des deutschen Stromnetzes zu integrieren und so zu zeigen, wie sie im neuen Gesamtsystem arbeitet. ENSURE ist das einzige Projekt in Deutschland, das zeigt, wie die innovativen Technologien im Zusammenspiel funktionieren.
Wie kann eine nachhaltige und zuverlässige Energieversorgung aussehen? Müssen wir uns bei der Nutzung von Energie auf Veränderungen einstellen?
Heute beginnt der Ladevorgang eines Elektroautos in dem Moment, in dem der Stecker eingesteckt wird. Besser wäre es, wenn der Ladevorgang sinnvoll mit der Einspeisung der Erneuerbaren Energien und dem Stromgroßhandelspreis synchronisiert wäre. Zusätzlich sollte die Netzkapazität berücksichtigt werden. Kurz: Wir brauchen eine intelligente Symbiose zwischen Netznutzung und Netzbetrieb. Dazu benötigen wir eine vollautomatische Wechselwirkung nach dem Zwiebelschalenprinzip. Im Kern sind das innovative Gebäudeenergiesysteme, welche die einzelnen Energiekomponenten wie Wärmepumpe, Ladestation, PV-Umrichter und stationäre Batterie im Gebäude automatisch steuern. Diese Gebäudeenergiesysteme sind mit einer automatischen Schnittstelle zum Verteilnetz ausgestattet. Über diese Schnittstelle wird die Wechselwirkung mit dem Netz intelligent gesteuert. Dadurch kann die verfügbare Flexibilität der Gebäude gebündelt- und mit der Erneuerbaren Stromerzeugung und dem Großhandelspreis in Einklang gebracht werden. Die nächste Zwiebelschale bildet die Schnittstelle zwischen Verteil- und Übertragungsnetzen. Dort können die Verteilnetze zunehmend die Frequenzstützung und Spannungshaltung von den Großkraftwerken übernehmen.
Welches Potenzial bietet künstliche Intelligenz bei der Gestaltung nachhaltiger Energiesysteme?
Bei dem beschriebenen Zwiebelschalenmodell kann künstliche Intelligenz interessante Beiträge leisten. Beispielsweise können Methoden der künstlichen Intelligenz die notwendigen Vorhersagen unterstützen, die für eine intelligente Wechselwirkung zwischen Verteilnetz und Gebäuden notwendig sind: zum Beispiel für Solareinspeisung, Außentemperatur, Mobilitätsbedarf und Strompreis. Wenn wir unsere Infrastruktur besser auslasten wollen, müssen wir präziser messen. Die künstliche Intelligenz kann uns helfen, Datenfehler zu erkennen und zu bereinigen. Und nicht zuletzt kann sie uns helfen, den Netzzustand in den Verteilnetzen abzuschätzen, damit wir wirklich nur so viel Messinfrastruktur installieren wie nötig.
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Bildnachweis: © Prof. Dr. Ing. Stefan Niessen
Zur Person:
Prof. Dr. Stefan Niessen leitet in der Siemens AG Technoloy das Feld Nachhaltige Energie und Infrastruktur. Mit Forschungsgruppen in Deutschland, Portugal, China, USA und Österreich entwickelt er Methoden für Auslegung und Betrieb von Gebäude-, Fabrik-, städtischen und regionalen Energiesystemen. Durch Kopplung von Strom, Wärme, Kühlung, Antrieb, Wasser und chemischen Energieformen verbessert sein Team Kosten, Nachhaltigkeit sowie Versorgungssicherheit und stellt Flexibilität bereit. Er ist auch Professor an der TU Darmstadt.
Pressekontakt:
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Verbundprojekt Wissenschaftskommunikation Energiewende
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